Berg der Wahrheit

Auf dem Monte Verità, dem geschichtsträchtigen Hügel am Lago Maggiore bei Ascona. Eine von fast tropischem Wald umstandene Wiese breitet sich in der flirrenden Sommerhitze vor mir aus.

 

Niemand ist da. Nur eine verfallende, skurrile Freiluftdusche hält die Stellung. Die Leute, die diese hochbeinige Dusche einst errichteten und benutzten, sind weg, die Sinnsucher von damals, all die Vegetarier, Lebensreformer, Wandervögel, Sonnenanbeter, Anarchisten, Esoteriker, Literaten und alternativen Intellektuellen, die hier von 1900 bis 1920 in einer antibürgerlichen Kolonie lebten.

 

Sie kommen nicht mehr zurück. Ihr Fest der Wahrheit und der Befreiung ist vorbei. Das Kollektiv dieser Utopisten ist längst hinter den Hügelzügen der Geschichte versunken. Heute ist der Monte Verità ein der Zeit angepasstes Tagungs- und Kulturzentrum, mit Hotelbetrieb und Museum. Und eigener Teeplantage – der einzigen in Europa, immerhin.

 

Etwas vom Geist der Idealisten von einst schwebt aber noch immer über dem sommerlichen Gelände. Ich fühle mich ihnen tief verbunden. Zugleich ahne ich ein wenig beschämt, dass ich sie damals, mit dem Blick des konservativen Zeitgenossen, wohl als Spinner und abgehobene Traumtänzer taxiert hätte.